Von der unvollendeten Vollendung zu der Unvollendeten Vollendung

 

Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot ausging vom Kaiser, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. So herrschte denn ein reges Treiben, damals, in gewissen Teilen der Welt, wohingegen es in anderen Gegenden etwas ruhiger zuging, insbesondere je weiter man aus der sogenannten Zivilisation wieder herauskam, obgleich diese im Grunde ein recht schillernder Begriff ist, denn für zivilisiert hält man gemeinhin zuvörderst die eigene Kultur, damit man dann bei nächster Gelegenheit möglichst geringschätzig auf seine Nachbarn herabsehen kann, demzufolge es sich also um einen Ausdruck handelt, der nicht gerade von der edlen Gesinnung dessen zeugt, der ihn benutzt, ja der darum quasi im Moment seiner Aneignung die vorgeblich höhere Stellung seines Besitzers geradezu ad absurdum zu führen geeignet ist, gleichwohl sich dessen ungeachtet zu allen Zeiten die jeweils herrschende Klasse sehr gerne mit ihm schmückte, währenddessen sich die anderen, sogenannten Primitiven immer wieder fragten, was um aller Welt an der Hektik und Modernität der ihnen gegenüber so hochgelobten Zivilisation, die den Menschen doch ganz offenbar seiner ureigensten Natur entfremdete, ihn schlecht gelaunt und herrschsüchtig werden ließ, denn eigentlich so großartig Nachahmenswertes sein sollte, so daß sie sich selbst vielleicht, wenn sie dessen begriffsphilosophisch fähig gewesen wären, als die eigentlich Zivilisierten bezeichnet hätten. Wie dem auch sei, wenn wir nun wieder etwas näher heranzoomen wollen an den eigentlichen Ort unserer Betrachtung, so können wir dort unten ein Land entdecken, mehr oder weniger zivilisiert, in welchem sich eine bedeutende Geistesschule befand, eine Kaderschmiede, wie man sie heute wohl betitelt hätte, aus der seit Alters her traditionsgemäß die besten Religionslehrer dieses Teils des Erdballs hervorgingen, um die wichtigsten Stellen an den dortigen Tempeln und Höfen zu besetzen und dem Volke sowie den Herrschenden gleichermaßen mit Rat und Tat hingebungsvoll zur Seite zu stehen, und von der aus sich auch heute -­‐ das heißt also damals -­‐ wieder ein Handvoll handverlesener Meister auf den Weg machte, ihrer neuen Bestimmung entgegen, deretwegen sie dortzulande so sehr geschätzt wurden -­‐ und daß, wie wir gerade gehört haben, nicht nur vom Kaiser. Einer dieser jungen Meister hatte nun eine ganz besondere Aufgabe vor sich, eine Reise in ein ihm unbekanntes Land nämlich, jedoch, um diese besser verstehen zu können, müssen wir zuvor noch einmal selbst zwei kleine Reisen antreten, die erste in die Zeit und die zweite in ein unwegsames, damals noch namenloses Gebirge, weit weg gelegen -­‐ insbesondere für derzeitige Verhältnisse, wo Reisen in erster Linie zu Fuß unternommen wurden -­‐ an der und dienend als natürliche Grenze zum eben wegen besagter Unwegsamkeit ebenfalls noch weithin unbekannten Nachbarsland. Es hatte sich also zugetragen, daß der Meister, als er noch keiner war, einer seiner zahlreichen Aufgaben im Konvent nachzugehen hatte, die darin bestand, einen kleinen Teil des umfangreichen Archivs abzuschreiben und zu katalogisieren, denn das gesamte Wissen des Ordens war ursprünglich nach und nach fein säuberlich auf Papyrus verewigt worden, so glaubte man jedenfalls anfänglich, bis dieser sich im Laufe der Jahrhunderte jedoch ziemlich unziemlich anschickte, seinen ursprünglichen Farb-­‐ und Aggregatzustand nach und nach zu verlassen, so daß notgedrungen alle Schriften und Zeichnungen noch einmal fein säuberlich auf das haltbarere Pergament kopiert wurden, und in der Tat, der damalige die entscheidende Idee gebende Abt hätte heute noch seine helle Freude, würde er die ihm anvertraute Bibliothek mit uns modernen Lesern durchwandern, denn er könnte nach wie vor ohne Verlust in dessen Fundus schmökern, ungleich der eher dunkel gefärbten emotionalen Reaktion, wie sie einem heutigen Bibliothekar widerfahren dürfte, sollte er einmal zweitausend Jahre in die Zukunft reisen und sich die digitalen Datenträger ansehen können, wie wir Hochzivilisierte sie heutzutage verwenden, und welche wie alle anderen modernen Strömungen auch die unweigerliche Eigenschaft aufweisen, so schnell mit der Zeit zu vergehen, wie sie vordem auf uns gekommen waren. So war denn unserem Aspiranten ein antiker Papyrus zuteil geworden, dessen Inhalt er sich gleich aufs Sorgfältigste und Behutsamste bemächtigte, denn Sprache und Schrift waren vorausschauenderweise die Generationen hindurch weitestgehend originalgetreu weitergegeben, Neuerungen dahingegen sehr skeptisch betrachtet worden, eben gerade der Vorzüge wegen, problemlos auf die Überlieferungen der Alten zugreifen zu können, denen man -­‐ im Unterschied zur heutigen vorherrschenden Meinung, die dies offenbar gerade umgekehrt sieht -­‐ schon immer eine größere Weisheit unterstellt hatte, als man sie selbst besaß, denn jene hatten, wohl mehr dank als

mangels fortgeschrittener Zivilisation, die den Menschen nur auf sich selbst wirft und damit vom Wesentlichen ablenkt, noch in einem viel engeren, gleichsam intensiveren Kontakt mit dem Göttlichen und seiner unendlichen Fülle gestanden, wodurch sie so manches hatten aufgreifen und an ihre Nachfahren zur gefälligen Verwendung weiterreichen können, was uns Heutigen direkt aufzunehmen durch eigenes Unvermögen versagt ist. Besagtes Schriftstück nun erzählte von einem lange in der Vergangenheit zurückliegenden Ereignis, das im kollektiven Gedächtnis schon in Vergessenheit geraten war, es aber gleichwohl ohne Zweifel unbedingt verdiente, alsbald wieder in dasselbe gerufen zu werden, so daß, den ewigen Naturgesetzen des regelmäßigen Kommens, Gehens und Wiederkehrens getreu, denen zufolge nichts Ehrliches jemals verlorengehen kann, nun endlich seine Stunde geschlagen und unser Restaurator den ihm zugeteilten Papyrus ausgerollt hatte, um nun selbst, zunächst natürlich noch nichtsahnend, ein Teil eben jener vor ihm liegenden Geschichte zu werden. Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle zu ahnen beginnen, daß die Auswahl von Schriftrolle und dazugehörigem Schriftgelehrtem keineswegs dem lauteren Spiel des reinen Zufalls überlassen war, sondern daß auch hier eben jene höhere Ordnung waltete, in dessen Dienst das ganze Haus schon seit unvordenklichen Zeiten gestanden hatte; wobei die jeweiligen Großmeister es immer wieder gern genossen, persönliche Zeugen des Zusammenspiels zu werden, welches die zukünftigen Koryphäen in lebendige Verbindung brachte mit den in den Schriften fixierten althergebrachten Traditionen. Dennoch, bei aller Erfahrung, versprach gerade dieser Fall denn doch, etwas ganz Außergewöhnliches zu werden, so daß ihm nicht nur die Aufmerksamkeit des ganzen Kollegiums, sondern eben auch die unsere als Zeugen der Nachwelt ganz zuteil wurde. Voller Herzklopfen stand unser Kopist nun da und studierte die fein säuberlich angeordneten kalligraphischen Zeichen, die wir orginalgetreu wiederzugeben uns leider versagen müssen, deren Inhalt wir jedoch gleichwohl prosaisch zu replizieren versuchen werden.

Es fand sich also, daß vor langer, langer Zeit -­‐ das gilt für uns, aus Sicht des Studierenden war es einfach vor langer Zeit -­‐ eine kleine Gruppe hochbegabter junger Meister, nämlich genau fünf an der Zahl, den Auftrag erhalten hatte, in das uns nun schon etwas näher bekannte weit entfernte Gebirge zu gehen, dasselbe, wenn möglich, zu überqueren, und, einmal auf der jenseitigen Bergseite angelangt, Näheres über die dortigen Sitten und Gebräuche zu erfahren, insbesondere auch in Bezug auf die daselbst anzunehmenderweise praktizierte Religion, sich dabei im Austausch mit den dortigen Bewohnern gegenseitig zu unterrichten, sowie gegebenenfalls, den eigenen Glauben dort füglichst heimisch werden zu lassen. Die Gruppe war denn auch hoffnungsvoll aufgebrochen, wie üblich ausgerüstet nur mit ihrer schneeweißen Ordenstracht, jeweils einem Wanderstab und ihrem unerschütterlichen Glauben, sowie -­‐ mangels Satellitentechnik und Mobiltelefonie, denn so unvorstellbar dies heute für uns klingen mag, war die Menschheit offenbar die letzten Jahrtausende hindurch irgendwie auch ganz gut ohne jene Errungenschaften ausgekommen -­‐ ein paar Brieftauben zum Rapportieren, deren Flug-­‐ und Navigationskünsten wir es tatsächlich überhaupt verdanken, wenn wir heute von derer Expedition ein so beredtes schriftliches Zeugnis vor uns liegen haben. Auf ihrer Missionsreise sorgte die höhere Präsenz, für die sie letztlich arbeiteten, für freie Kost und Logis, mal eingeladen von barmherzigen Mitmenschen unter Dach und Fach, mal von Mutter Natur unter freiem Himmel bei Beeren und Früchten, bis sie schließlich nach Wochen der Wanderschaft das Gebirge unmittelbar vor sich gesehen hatten, welches ihnen zu überqueren aufgetragen worden war. Bald hatten sie einen Führer ausgemacht, der sie bis an die unwegsamen Pässe heranführte, sich jedoch weigerte, weiter mit ihnen über dieselben zu ziehen, da manche dies schon versucht, aber von dort niemals nicht wieder zurückgekommen wären und er sich auch ansonsten vom Weiterklettern keine Reichtümer oder sonstigen Vorteile versprach. So wanderten sie denn wohlgemut alleine weiter, das heißt was heißt schon alleine, denn wer mit Gott ist, der ist nie wirklich alleine, und überdies waren sie ja ohnehin bereits zu fünft. Auf der anderen Seite des ersten Gebirgzuges fanden sie in der Tat keine lebende Seele vor, ganz wie es ihnen der Bergführer bereits in den düstersten Farben ausgemalt hatte, der diese felsgrauen Täler ihrer Farbe gemäß als nichts anderes denn grauenvolle Vorhöfe des Reiches der Finsternis ansah. So dauerte es ein paar Tage, bis sie den nächsten Paß ausgemacht hatten, geleitet von göttlicher Vorsehung, ihrem unerschütterlichen Glauben und einer Portion gesunden Augenmaßes im Lesen der Spuren wilder Tiere, die sie auch zu den benötigten Wasserquellen führten, denn zumindest des üppigen Essens konnten sie eine ganze zeitlang mittels geeigneter Mediationsübungen entbehren und sich mit dem

wenigen Pflanzlichen begnügen, das ihnen die Gebirgsflora ob der Höhe und Jahreszeit hin und wieder gnädigerweise, aber bescheiden anbot. Nach einigen Mühen gelangten sie schließlich etwas abgezehrt, aber gänzlich unbeschadet und guter Dinge über den nächsten weißen Bergzug hinein in ein weitgezogenes, diesmal hoffnungsvoll grünendes Tal mit rauschenden Bächen, wo sie zunächst trotz des guten ersten Eindrucks zu ihrer unliebsamen Überraschung sehen mußten, wie sich eine noch höhere Gebirgskette am Horizont vor ihnen auftürmte, dann allerdings, zu ihrer ganzen diesmal freudigen Überraschung, sehen durften, daß aus der Talesmitte zahlreiche kleinere Rauchsäulen senkrecht emporstiegen, wie sie erfahrungsgemäß nur aus Feuerquellen emporquellen, deren Ursprung ganz menschlicher Natur ist. Sie wurden denn auch bald von deren Urhebern selbst ausgemacht und auf das Freudigste begrüßt, denn hohen Besuch hatte man hier schon seit Menschengedenken keinen mehr erhalten, und warum sollte man dessen nun etwa argwöhnen und sich nicht friedlich verhalten, ganz im Gegenteil, der menschliche Forscherdrang und die natürliche Gastfreundschaft überwogen, denn natürlich wußte man um die Existenz der Völker und Stämme auf der anderen Seite des Berges, war neugierig, über die dortigen Lebensumstände mehr zu erfahren und sich auch dessen bewußt, hier weitläufige Verwandte vor sich zu haben, da es sich bei diesem Volke, wie sich denn alsbald herausstellte, tatsächlich um die Nachkommen einer noch früheren Handelsexpedition aus eben dem Lande der jungen Meister handelte, die es nie gewagt, geschweige denn geschafft hatte, die zweite Gebirgswand zu überqueren, die aber auch den ob der Steilwände risikobehafteten Rückweg gescheut und es im Gegenteil ob der günstigen klimatischen, strategischen und natürlichen Dispositionen des Tales schließlich vorgezogen hatte, gleich hier zu bleiben. Verständigungsschwierigkeiten gab es praktisch keine, denn Sprache und Schrift hatten sich auch hier weitestgehend originalgetreu erhalten, so daß man von Anfang an umso herzlicher miteinander umging. Wie sich dann weiter herausstellte, hatten sie gar keinen besonderen Bezug zur Religion und verehrten nur die am Tageslauf der Sonne zu erkennenden Wechselpunkte der vier Jahreszeiten, welche das Wetter, die Jagd und die Ernte ordnend begleiteten und somit den Lauf des Lebens dort mit einer nützlichen Regelmäßigkeit bestimmten. Die Meister stießen daher bei der näheren Erläuterung der tieferen Dimensionen des Daseins im allgemeinen und des Jenseits im besonderen auf offene Ohren und konnten bald die gesamte Gemeinschaft, welche mittlerweile auf eine beachtliche Anzahl angewachsen war, für ihren Herrn gewinnen. Dennoch, es mag an der Höhenluft gelegen haben, am ungewohnten Klima, an der besonderen Last der Isolation, jedenfalls schien es dann irgendwie irgendwann zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Meistern über die rechte Auslegung einzelner religiöser Bestimmungen gekommen zu sein, denn in der letzten überlieferten Nachricht berichtete der Älteste unter ihnen, sie hätten sich bis auf weiteres in fünf Splittergruppen aufgeteilt und an verschiedenen Stellen des zum Glück -­‐ oder der Vorsehung wegen -­‐ sehr weitläufigen Tales neu angesiedelt.

Soweit reichten also die den Brieftauben anvertrauten Berichte, neben einigen Skizzen zum Überqueren der Pässe, dann brach die Erzählung ab, und es fand sich nur noch ein handschriftlicher Vermerk aus alten Tagen, man müsse doch bei nächster Gelegenheit unbedingt mal jemanden zur Nachsorge dort vorbeisenden. Warum es dazu offenbar niemals mehr gekommen war, ließ sich aus heutiger -­‐ das heißt für uns natürlich immer noch damaliger -­‐ Sicht leider nicht so ohne weiteres rekonstruieren, es mochte ein Krieg dazwischengekommen sein, eine Umverlagerung des Archivs mit nachfolgender versehentlicher Verlegung des Papyrus in ein hinteres Fach im Kellergewölbe, eine Hungersnot, oder weitaus wichtigere Aufgaben unterschiedlichster Natur und Güte. Nun aber sollte sich der fromme Wunsch aus alten Tagen erfüllen und der junge Mann durfte nach erfolgreicher Ablegung seiner Meisterprüfung besagte Reise antreten, diesmal allein, die Zeiten ändern sich, aber was heißt schon allein, denn wer mit Gott ist, der ist bekanntlich nie allein, damals wie heute nicht. So war er denn wie üblich hoffnungsvoll aufgebrochen, bestückt mit der immer noch schneeweißen Ordenstracht, dem Wanderstab und seinem unerschütterlichen Glauben, wenngleich nach wie vor ohne die immer noch ihrer Erfindung harrenden Mobiltelefone, dafür aber ausgestattet mit zwei vorzüglichen Brieftauben zum gelegentlichen Berichterstatten, der guten Tradition halber. Auf seiner Missionsreise sorgte die höhere Präsenz, in deren Diensten er stand, in bewährter Manier für freie Kost und Logis, bis er schließlich nach Wochen der Wanderschaft besagtes Gebirge unmittelbar vor sich ruhen sah, ganz so, wie er es sich anhand der ihm bekannten, im Archiv zur Genüge vorhandenen Beschreibungen und Zeichnungen desselben vorgestellt hatte. Bald war ein Führer

ausgemacht, der ihn bis an die unwegsamen Pässe heranführte, sich jedoch weigerte, weiter mit ihm über dieselben zu ziehen, da von dort noch niemand niemals nicht zurückgekommen sei, eine, wie wir jetzt wissen, durchaus der Wahrheit entsprechende Beobachtung, und jener die andere Seite, der Überlieferung gemäß, ohnehin nur als Vorhof des Reiches der Finsternis ansah. So zog unser Meister unverdrossen und frohgemut weiter und fand auch alles wie beschrieben vor, denn Gebirge haben es mit dem Verändern noch weniger eilig als konservative Traditionalisten selbst der hartnäckigsten Art, und konnte infolgedessen schon bald den zweiten Paß ausmachen und ebenso erfolgreich überqueren wie ehedem seine wackeren Vorbrüder. Begünstigt von der Aussicht auf ein baldiges Treffen mit den Nachkommen jenes auf so wunderliche Art und Weise erst isolierten und dann instruierten Volkes kam er so recht schnell und ohne Zwischenfälle ins gelobte Tal. Abermals klopfte ihm das Herz wie seit der Öffnung seiner persönlichen Papyrusrolle nicht mehr: würde überhaupt noch eine Menschenseele hier ihr Dasein fristen? Und wenn ja, wie? Da! Gott seis gelobt! Tatsächlich! Es gab sie noch, die Rauchsäulen, klein, aber fein, die nun bei genauerem Hinsehen fast überall im Tal auszumachen waren. Wie viele Jahre, ja Jahrhunderte waren vergangen! Und doch schien alles noch so, wie vordem beschrieben. Unglaublich, aber wahr!

Er faßte sich ein Herz, sog tief von der frischen Bergluft ein und zog weiter aus, dem ersten rauchenden Konglomerat entgegen. Der erste Mensch, den er von weitem sah, war ein Schäfer, der außerhalb eines umzäunten, um nicht zu sagen, befestigten Dorfes seinem Berufe nachging. Auf diesen ging er nun zu. Langsam näherte er sich, denn seine innere Stimme mahnte ihn zur Vorsicht, doch zugleich gedachte er eines seiner heiligen Ordensgrundsätze: Wenn der Herr mit euch ist, fürchtet kein Unglück, denn Er ist der Beste aller Beschützer! Und ließ es ruhig auf die Begegnung ankommen. Der Schäfer griff denn auch sofort zu seinem wuchtigen Hirtenstab, ließ ihn dann aber doch nur locker in seiner behandschuhten Hand hin und herrollen, denn er hatte schnell erkannt, daß es sich um einen fremden Diener Gottes handeln mußte, trug jener doch ein auffallendes weißes Gewand, das demjenigen seines Priesters recht ähnlich sah.

„Friede sei mit dir, edler Mann!“

begrüßte ihn alsbald der Fremde, mit einem ungewöhnlich klingenden Akzent, aber ansonsten gut verständlich. So ging er ihm denn neugierig entgegen und bat ihn, Platz in seiner nahegelegenen Hütte zu nehmen. Über einer Tasse Tee kamen sie ins Gespräch, und der Meister erzählte, von weit her zu kommen, um nach den Nachfahren seiner Ordensbrüder zu forschen, von denen ihm eine antike Schriftrolle berichtet habe, sie wären einst in dieses Tal gelangt und hätten dort wohlwollende Aufnahme gefunden, sich dann aber religiöser Diskrepanzen wegen entzweit, bzw. sogar entfünft. Sein Gastgeber hörte dem sehr aufmerksam zu und bestätigte die Geschichte, denn so war sie auch ihm überliefert worden: nach der Trennung jedoch, aufgrund anfänglich zunehmender Animositäten und sogar vereinzelter Scharmützel wegen der Talesgrenzen sowie sonstiger zwischen ihnen streitiger Rechte und Pflichten, hatten sie schließlich alle in einem großen Kraftakt einen gemeinsamen Friedensvertrag aufgesetzt und das Wesentliche dort ein für allemal geregelt. Da sie im Grunde alle zur Friedfertigkeit erzogen worden waren, sei diese historische Abmachung auch bis auf den heutigen Tage respektiert worden, doch war der Kontakt zwischen ihnen allmählich abgebröckelt und man hatte, abgesehen von gelegentlichem Warenaustausch, nicht mehr viel miteinander zu tun gehabt; so sei es bis auf den heutigen Tag geblieben. Rein vorsorglich habe jedes Dorf sich weiland sogar mit einer Befestigung versehen, aber es gab schon lange keine Soldaten oder Waffenarsenale mehr, das Leben war schön, einfach und ruhig. Nun war der weitgereiste Gast zwar sehr neugierig, aber auch sehr müde, und so beschlossen sie, morgen weiter zu reden. Selbst die Abendgebete, die dieser vor dem Schlafengehen verrichtete, kamen dem Schäfer sehr bekannt vor, die Traditionen hatten sich aufs Beste bewährt und waren deshalb beidseitig der Berge gleichermaßen liebevoll gepflegt worden. Am Morgen gingen sie gemeinsam mit den Schäfchen auf die Weide und genossen den neuen Tagesanbruch, alsdann wollte der Mönch sich genau unterrichten, worin denn nun diese sagenumwobenen fünffachen Unterschiede beständen, und, da sein Begleiter ihm dies natürlich nicht in allen Details erklären konnte, er war ja nur ein einfacher Hirte, verwies er ihn der Einfachheit halber gleich an den Dorfpriester, beschrieb ihm den kurzen Weg dorthin und versicherte ihm noch nickend, dessen Türe stehe und für Gespräche sei jener immer offen. Der Mönch bedankte sich aufs Herzlichste und gelang denn auch, nur ein kleines Weilchen später, an besagte Tür, klopfte, und es ward ihm aufgetan. Er wiederholte seine Geschichte

sowie sein Anliegen, woraufhin der Priester ihn unbedingt zu sich bat, denn er war natürlich hocherfreut über den unerwarteten Besuch und die Gelegenheit eines vertieften religiösen Austausches mit einem offiziellen Vertreter des bei ihnen im Andenken immer noch respektvoll verehrten Mutterklosters. So stellten sie schnell fest, daß sie tatsächlich zum überwiegenden Teil Gemeinsames dachten und lehrten. Nur hatte jeder der historischen fünf Meister im Laufe der Zeit besonderes Gewicht auf einen ganz bestimmten Glaubensaspekt gelegt, um zur Vollkommenheit zu gelangen, und der erste Meister, dessen Lehre dieses Dorf folgte, hatte gepredigt, den direkten Hautkontakt tunlichst zu vermeiden, weswegen sie alle immer Handschuhe tragen würden. Dies sei ihre besondere Art, sich weniger auf das Körperliche zu konzentrieren und nicht den Versuchungen des Tastsinns zu erliegen. Der Mönch grübelte sofort darüber nach, wo in den ihm ja bestens bekannten Ordensschriften und -­‐überlieferungen eine solche Regel etwaig zu finden sei, aber es kamen ihm nur etwas allgemeiner gehaltene Ermahnungen in den Sinn, sich generell nicht auf körperliche Freuden zu beschränken, sondern diese tunlichst unter Kontrolle zu halten, um dem Geistigen mehr Platz einzuräumen; keineswegs sollte dies jedoch dazu führen, die zahlreichen Bedürfnisse des Leibes ganz zu ignorieren, der Weg sollte ein leichter sein, keiner der Selbstkasteiungen, und bestand nun gerade nicht darin, auch noch großartig über die einem ohnehin vom Leben abverlangten Entbehrungen hinauszugehen, denn ein zufriedener Geist und Körper konnten sich in Dankbarkeit und Demut dem Höheren besser widmen als ein Asket, der nur Gefahr lief, den Sinn des Lebens mehr in seiner Enthaltsamkeit zu suchen als beim Schöpfer aller Versorgung. So instruierte er denn den Priester entsprechend und legte ihm ans Herz, zur einfachen Lehre zurückzukehren. Dieser war natürlich zunächst recht verblüfft, hatte er sich doch eine autorisierte Bestätigung seiner Lehre erhofft, versprach aber, tunlichst über die Einladung nachzudenken, was blieb ihm auch anderes übrig.

Am nächsten Tag machte unser eruierter Mönch sich frühzeitig auf den kurzen Weg zum zweiten Dorf, denn sein Auftrag war ja noch lange nicht erfüllt. Dortselbst angekommen, stellte er sogleich fest, daß niemand Handschuhe trug, und so war er gespannt, die besondere Methode des zweiten Meisters kennenzulernen. Beim Priester eingelassen, stellten sie abermals fest, im Prinzip der gleichen Lehre zu folgen, nur daß der zweite Meister offenbar jeglichem Duft abhold gewesen war, er sah in wohlriechenden Blumen und gar Parfüm einen Feind jeglicher edler Gesinnung und hatte alle Wohlgerüche aus der Gemeinschaft verbannt. Erneut ermahnte der Mönch den Priester, sich und seiner Gefolgschaft nicht die guten Dinge des Lebens zu versagen, die der Herr ihnen für die Dauer ihres Aufenthalts hier unten bereitgestellt und somit auch erlaubt hatte, solange nur die Grenzen dessen, was recht und vernünftig ist, nicht übertreten würden. Auch der zweite Priester versprach etwas zähneknirschend, darüber nachzudenken, und entließ den Mönch zum dritten Dorf.

Dort angelangt, sah er ebensowenig behandschuhte Menschen wie im zweiten Dorf, roch dafür aber an bunten Blumen, und war nun umso neugieriger auf den dritten Weg. Beim Priester angekommen, wiederholte sich die Freude über die Übereinstimmung beider Lehren in allen wesentlichen Apekten, nur daß diese Gefolgsleute jegliches schmackhafte Essen ablehnten. Würzen war ihnen verboten, denn sie wollten der Völlerei vorbeugen, die die Menschen so leicht vom rechten Wege abzubringen vermag. Der Mönch nahm auch diesen Priester beiseite, vertiefte mit ihm das Studium der Überlieferungen, und legte ihm die reine Lehre ans Herz, nämlich die Gläubigen unbedingt teilhaben zu lassen an allen guten Dingen, die der Herr ihnen zur Versorgung gewährte, wenn sie dies nur immer im Bewußtsein dessen täten, daß Er es war, von dem ihnen dies alles zu Teil wurde. Der dritte Priester konnte nicht umhin zuzugeben, dies überdenken zu wollen, und zog sich nachdenklich zurück.

Der junge Meister zog nun weiter zum vierten Dorf, wie immer auf alles Mögliche und Unmögliche vorbereitet. Dortselbst sah er abermals keine Handschuhe, die Blumen dufteten, und er roch hier und da die Zubereitung guten Essens. Es fiel ihm dennoch sogleich auf, daß hier im Gegensatz zu den anderen Dörfern alle Häuser und Hütten in Grautönen gehalten waren, manche schwarz, manche weiß, aber bunte Anstriche fehlten völlig, auch bei der Kleidung der Einwohner. Der von ihm alsbald konsultierte Priester bestätige denn ebenfalls, im Prinzip noch der einen Lehre zu folgen, jedoch mit dem besonderen Unterschied, daß man hier dem Auge nichts Gefälliges gönnen wollte und somit der Gebrauch von Farben vollends unerwünscht war. Der Mönch schüttelte den Kopf und verwies auf die Schriften: Danach solle es der Mensch nun gerade nicht unternehmen, das Schöne zu verbieten, das

der Herr für seine Geschöpfe geschaffen habe, sondern sich aller guten Dinge zur eigenen Versorgung bedienen, umfassend verstanden als leibliche, geistige und spirituelle, und dies als willkommene Gelegenheit nutzen, dabei den Einen hoch zu loben. Der Priester erschien etwas ungehalten, seine Farbenlehre bzw. eigentlich eher Schwarzweißlehre revidieren zu sollen, sagte dann aber zu, das Ganze in Betracht ziehen zu wollen, woraufhin der Mönch guten Mutes zum fünften Dorfe aufbrach.

In selbigem angelangt sah er normale Bekleidung, roch an Blumen und Speisen, erfreute sich der bunten Trachten, und begab sich alsdann zum dortigen geistigen Oberhaupt, um das Notwendige zu besprechen. Auch hier gab es zu seiner großen Freude eine Übereinstimmung nach der anderen, bis das Thema auf die Besonderheit dieser Dorfeslehre zu sprechen kam und ihm eröffnet wurde, es sei ja alles gut und schön, aber die Gläubigen dürften bittesehr keine wohlklingenden Töne hervorbringen oder anhören, außer natürlich beim Sprechen mit der ihnen eigenen gottgegebenen Stimme. An dieser Stelle schüttelte der Mönch den Kopf und wollte eine entsprechende klare Anleitung aus den Schriften zitiert haben, die solcherlei Schlußfolgerung etwa rechtfertigen könne; diese blieb ihm der Priester jedoch pflichtschuldigst schuldig, denn es war dort tatsächlich kein solches Verbot verzeichnet; stattdessen berief dieser sich eher allgemein auf die bekannten Gefahren, deren die suchenden Seelen ansonsten durch verführerische Musik ausgesetzt wären und die sie nur vom rechten Wege ablenkten, gerade so wie es der fünfte Meister gepredigt hatte. Der Mönch hielt nun nochmals dagegen, daß in den Schriften an keiner Stelle ein Musikverbot ausgesprochen worden sei, obgleich ihre heiligen Erkenntnisse vollständig und widerspruchsfrei alle Thematiken des menschlichen Daseins erschöpfend abhandelten. Ein solch gewichtiges Gebot hätte also mit Fug und Recht eigens Erwähnung finden müssen. Er zitierte dann weiter aus den Quellen, daß der Gläubige alle Arten von Versorgung in Betracht ziehen solle, die ihm der Herr von oben herab gesandt habe, und die er nicht einfach selbstherrlich in verboten und erlaubt einteilen dürfe, denn dies habe der Herr ihm gerade nicht aufgetragen; persönliche Ansichten und Vermutungen seien eben subjektive Meinungen und nicht das Wort Gottes. Umgekehrt sei es ihm ausdrücklich verboten worden, sich jegliches Gute und Schöne zu versagen, er solle gerade alles Positive ehren und sich dessen erfreuen, das ihm eine angenehme Erinnerung an die Vollkommenheit der Schöpfung sei, und damit an seinen Herrn selbst. Darüber hinaus sei es der Charakterbildung förderlich, sich mit gutem Stil und Musik selbst zu disziplinieren. Insbesondere sei ja auch die Musik eine Gabe Gottes, der das ganze Universum mit Rhythmus, Harmonie und Melodie ausgestattet habe, vom trommelnden Herzschlag über die Polyphonie des pfeifenden Windes bis hin zum melodiösen Gesang der Vögel. Indem er dies beherzige und imitiere, werde der Gläubige erfahrungsgemäß gerade nicht vom Wege abgelenkt, sondern seine Seele zur Perfektion angehalten und erhoben. Wie denn auch das vereinte Anhören oder erst recht Spielen von Musik den Zusammenhalt fördere und das Gemeinschaftsgefühl stärke, denn gleiche Erlebnisse verbänden, vor allem aber werde die Versammlung geschlossen eingestimmt auf den Gottesdienst, die Gedanken konzentrierten sich auf einen Punkt, alles dies durchaus wünschenswerte Wirkungen zum Lob der Ehre Gottes und zur Rekreation des Gemüts. Die Tatsache, daß in manchen Vorträgen zum Atheismus aufgerufen werde, dürfe auch nicht zur Abschaffung von Reden als solchen führen, die Tatsache, daß mit einem scharfen Messer Brot geschnitten oder ein Nachbar bedroht werden könne, führe auch nicht zur Verbannung von Messern, und ebenso sei es auch mit der Musik, die solange gut und schön wäre, wie sie nicht mißbraucht würde. Zu guter Letzt verwies er noch auf ihre heilende Wirkung, die physisch und psychisch Kranken Erleichterung verschaffe: was offenbar uneingeschränkt gut sei. Der Priester ließ denn auch nach und nach seinen anfänglichen Widerstand fallen und bat sich eine kurze Bedenkzeit aus. Der Mönch willigte gerne ein und ging sich erst einmal füglich und noch in aller Stille ausruhen.

Bald darauf bat er die Dorfältesten, wieder eine Generalversammlung aller Talbewohner anzuberaumen, die erste seit der damaligen Trennung. Kommt herbei zur Lehre, die wir gemeinsam befolgen! ließ er überall ausrufen. Als sich alle versammelt hatten, hielt er eine gepfefferte Rede, in der er allen unmißverständlich die Einheit aller Lehre einbläute, die Einheit allen Seins, die Einheit des Einen. Er erinnerte an das gottgegebene Gebot, Gottes gute Gaben gütigst zu gebrauchen und nur das zu verbieten, was offenbar schändlich sei oder gegen die Vernunft verstoße, nicht willkürlich dieses oder jenes. Rein vorbeugend wies er darauf hin, die anderen Dörfler wieder mit offenen

Armen zu empfangen, es stehe dem einzelnen nicht an, den anderen zu verurteilen und abzulehnen, denn die Befugnis zum Richten liege einzig und allein beim Schöpfer. Er lobte das friedliche Zusammenleben der vergangenen Tage und bestimmte, die Dörfer wieder uneingeschränkt zu öffnen, wobei er zum schnelleren und besseren Zusammenführen der jungen alten Gemeinschaft anregte, daß jedes neue Paar aus zwei verschiedenen Dörfern stammen sollte. Abschließend ließ er alle jenes alte Versprechen erneuern, welches ihre Antenaten schon gegeben hatten, nämlich daß sie ihr Leben dem Einen widmen und Seinem Anliegen immer folgen wollten.

Ein paar Tage lang blieb er noch, um zu sehen, wie sich alles entwickelte, aber es schien ganz so, als hätten die Dörfler nur auf diesen besonderen Tag gewartet, denn überall herrschte fröhliches Treiben und Regen, jeder zeigte dem anderen, was dieser lange entbehrt hatte, und sein anfängliches Bedenken eines allfälligen Ressentiments konnte er schnell beiseite schieben. So schickte er denn die erste Taube mit einem kurzen Bericht auf ihre Heimreise und machte sich selbst auch wieder zurecht. Aus jedem Dorf wählte er einen vielversprecheden Novizen, und alsbald schon zogen sie los, der unbezwungenen riesigen Gebirgswand entgegen, denn das wollte er doch sehen, was es dort auf der anderen Seite gäbe, ja er brannte förmlich darauf, einmal auf der jenseitigen Bergseite angelangt, Näheres über die dortigen Sitten und Gebräuche zu erfahren, insbesondere auch in Bezug auf die daselbst anzunehmenderweise praktizierte Religion, sich dabei im Austausch mit den dortigen Bewohnern gegenseitig zu unterrichten, und, gegebenenfalls, den eigenen Glauben dort füglichst heimisch werden zu lassen. Der Gemeinschaft mußte er versprechen, so Gott es wolle, eines Tages auf dem Rückweg wieder vorbeizukommen.

„Der Edelste unter euch sei der mit dem tiefsten Gottesbewußtsein! Seid euch des Tages bewußt, an dem ihr zum Herrn zurückkehren werdet, dann wird einem jeden Menschen alles das gegeben, was er sich verdient hat, und niemandem soll Unrecht geschehen.“

gab er ihnen allen zum Abschluß noch mit auf ihren und machte sich alsdann auf seinen eigenen noch langen, langen Weg.

 

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